Auf der re:publica Anfang Mai diesen Jahres war Snapchat the next big thing. Auch alle großen Instagram-Accounts – und natürlich alle kleinen – haben heutzutage einen Snapchat-Account. Während man in den Marketing-Agenturen noch überlegt, wie sich mit Inhalten, die nach 24 Stunden gelöscht werden, nachhaltig Wirkung erzielen lässt, scheinen sich viele User von Instagram ab- und Snapchat zuzuwenden.
Im Prinzip folgen beide Apps einer ähnlichen Idee: Der Moment – und nur der Moment – soll in die Welt hinausgetragen und sozial geteilt werden. Instagram trägt den Instant-Moment im Namen; kaum weniger selbsterklärend ist der Name bei Snapchat. Dabei treibt Snapchat das Instantprinzip auf die Spitze, indem die Snaps (Bilder und Videos) spätestens nach einem Tag verschwinden. Snapchat zeichnet sich aber auch dadurch aus, dass die App kontinuierlich verändert wird: Zunächst war sie ein Messenger, dann kamen die sogenannten Geschichten dazu und schließlich konnten auch Zeitschriften, Magazine und Marken ihre Inhalte prominent platzieren. Als ich die App im März 2014 das erste Mal benutzte, konnte man mit ihr praktisch nur chatten.
Snapchat entwickelte sich von einem Chat-Programm zu einem Programm, mit dem man komplexere Geschichten erzählt. Die Programmmacher scheinen sich dabei sehr auf die Bedürfnisse der Nutzer einzulassen. Jedenfalls sind die Modifikationen erheblich und in diesem Ausmaß bei Instagram undenkbar. Bei Instagram sind in fast sechs Jahren die Grundfunktionen gleichgeblieben und nur differenziert, nicht aber grundlegend verändert worden. Es war von Anfang an möglich, zu kommentieren und zu liken. Diese Nutzerreaktion konnten alle sehen, sofern ein Account nicht „privat“ war. Auch konnten alle User sehen, wem man folgt und wer einem folgt. Mit etwas Verzögerung wurde eingeführt, dass die Follower eines Accounts auch sehen konnten, welche Bilder der Account selbst likt. Damit zielte Instagram praktisch immer auf ein soziales Teilen, die Bildung eines sozialen Netzwerks.
Was bei Snapchat fehlt, ist ein vergleichbarer Rückmeldekanal. Will man auf etwas reagieren, muss man eine direkte Message senden, die dann wiederum die anderen User nicht sehen. Nicht einmal ein Liken ist möglich, mit dem zumindest eine gewisse Zustimmung (oder Nicht-Ablehnung) öffentlich ausgedrückt werden kann. Es fehlt eine basale interaktive Komponente, die eine Form der Kommunikation unter Anwesenden simuliert. Einzig möglich sind direkte Rückmeldungen an die Produzenten der Inhalte – vergleichbar mit der Zuschauerpost früherer Zeiten. Der Highscore scheint Auskunft darüber zu geben, wer bei Snapchat besonders beliebt ist. Tatsächlich sagt der Highscore nur etwas darüber, dass derjenige Nutzer sehr aktiv oder sehr lange dabei ist oder einfach nur zu viel gechattet hat. Man kann nicht sehen, wie häufig ein Beitrag angeschaut wurde, und kann ebenso wenig erkennen, wie viele User einem Account folgen. Die Einschaltquoten bleiben geheim. Snapchat, so könnte man festhalten, ist eine Art Fernsehen, bei dem jeder User seinen eigenen Kanal betreibt.
Aber was ist nun mit dem Instantprinzip beider Apps? Als ich Instagram im Herbst 2010 zu nutzen begann, sah ich oft Fotos von den Couchtischen anderer User, im Hintergrund lief der Fernseher und Chipstüten lagen herum. Oder Nutzer nahmen in ihrem Auto ein Foto auf oder posteten den Blick aus dem Fenster ihrer Wohnung. Das Alltägliche eben. Wer sich solche Bilder anschaut, dem wird versichert, dass das Leben des anderen in überschaubaren, geregelten Bahnen verläuft. Der Alltag der anderen ist genauso unspektakulär wie der eigene. Fotos dieser Art sehe ich auf Instagram kaum noch. Das Sujet „Alltag“ ist vielmehr umgezogen – zu Snapchat. Dort findet man mittlerweile die Bilder und Geschichten, die vor einiger Zeit noch auf Instagram zu sehen waren.
Da Snapchat nur auf mobilen Geräten läuft und nur über sehr einfache Filter verfügt, ist die Qualität der Bilder und Videos nicht sonderlich hoch. Man muss ein Video oder Foto direkt mit dem mobilen Gerät aufnehmen, der Transfer von professionelleren Kameras ist nicht möglich. Dadurch entsteht die Anmutung, alles passiere jetzt und sei genau so, wie ich es von außen betrachte. Aber vielleicht ist es der x-te Versuch, die schöne Landschaft, auf die man gerade blickt, oder die coole Situation, in der man gerade steckt, mit blumigen Worten zu beschreiben.
Warum nutzen so viele Instagrammer, die mit professionellen Kameras und viel Bearbeitungsaufwand hergestellte Fotos auf Instagram posten, Snapchat? Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir noch einmal zurück zu den Anfängen von Instagram: Mithilfe von Bildern konnte man dort eine visuelle Erzählweise entwickeln, bei der Alltägliches im Vordergrund steht. Mit der Professionalisierung der Instagrammer verfeinerten einige auch die Erzählweise, so dass beispielsweise Reisen bebildert wurden und längere Bildstrecken auftauchten. Drei oder vier Fotos am Tag, gerade auf Reisen, waren keine Seltenheit. Sie schienen auch nötig zu sein, um Geschichten von einer Reise zu erzählen.
Accounts, die auf Instagram gegenwärtig stark wachsen, präsentieren aber höchstens ein Foto pro Tag – nicht zuletzt von oder auf Reisen. Diese Fotos unterscheiden sich stark von solchen, mit denen Reisegeschichten erzählt werden sollen. Die Fotos der neuen Erfolgs-Accounts zeigen perfekt bearbeitete Bilder spektakulärer Landschaften: Bergsee reiht sich an in Nebel gehüllte Bergkette reiht sich an Sonnenuntergang. Auf das Minimum reduzierte Stadtlandschaft reiht sich an auf das Minimum reduzierte Stadtlandschaft. Es sind in gewisser Weise Traumbilder ohne Kontext. Um zu sehen, dass sie nicht ganz den Träumereien der Fotografen entstammen, sondern einen Bezug zu vorhandenen Räumen haben, braucht man mittlerweile eine andere App: Snapchat. Dort können die alltäglichen Geschichten erzählt werden, die hinter den außergewöhnlichen Bildern stehen – der Blick aus dem Hotelfenster, die Fahrt durch Vorstadtwüsten, die Mahlzeiten und viele andere, mehr oder weniger aufregende Ereignisse aus dem Leben von Instagrammern.