Weshalb haben Landschaftsfotos auf Instagram mehr Erfolg als Portraits? Das hat Christoffer Collin (@wisslaren) vor Kurzem seine Follower gefragt. Die zahlreichen und vielfältigen Kommentare auf diese Frage verdienen eine genauere Betrachtung, weil sie die Perspektive der Rezipienten zur Sprache bringen. Im ersten Teil meines Blogposts ging es um Begründungen für den Erfolg von Landschaftsbildern. Die Quintessenz: Wir träumen uns in die Schönheit der Natur, um dem langweiligen Alltag zu entfliehen. Nachdem ich den Fokus auf Landschaften gelegt habe, will ich mir nun ausgewählte Kommentare anschauen, die sich meist gegen Portraits auf Instagram wenden. Bei der Durchsicht der Argumente gegen Portraits greife ich einige Aspekte aus dem ersten Blog auf und vertiefe diese.
Portraits und ihre Qualität
Vielleicht sind die Portraits von Chris einfach nicht gut genug und bekommen deshalb weniger Likes als seine Landschaftsbilder? Auf dem Bild, mit dem Chris die Diskussion in Gang setzte, ist ein Mann zu sehen, der auf einem Hocker sitzt und direkt in die Kamera schaut. Er hat schwarze Haare, dunkle Augen und einen Bart. Die Hände sind auf den Knien verschränkt. Im Hintergrund ist eine Wellblechwand zu sehen, die schräg aus dem Bild läuft. Das Bild ist hat einen leichten Ockerstich.
Über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten. Deshalb verwundert es nicht, dass die Nutzer unterschiedliche Meinungen zur Qualität des Bildes haben. Erinnert sei daran, dass das Bild über 8.000 Likes bekommen hat und viele Kommentare dessen Qualität loben. Aber es gibt auch Kritik an der Qualität des Fotos, und zwar formal wie inhaltlich.
Schauen wir uns zunächst einen Kommentar an, den man der formalen Kritik zurechnen kann, weil er sich auf technische und handwerkliche Aspekte bezieht. Kate (@Katealexandriap) schreibt, sie selbst würde eine andere Linse bevorzugen. Sie meint außerdem, die Kamera schaue von zu weit oben auf den Mann und die Haltung der Hände sei nicht richtig. Die Fotos, die Kate auf ihrem Account zeigt, deuten darauf hin, dass sie die Maßstäbe, die sie an Chris’ Portrait anlegt, nicht streng auf ihre eigenen Bilder anwendet: Einen Hund von halb oben aufzunehmen, ist vielleicht nicht die beste Idee.
Viele Kommentare üben inhaltliche Kritik. Sie beziehen sich auf den Bildinhalt, also auf das, was zu sehen ist, sowie auf die Intention und Haltung des Fotografen. Den fotografischen Ansatz oder die Haltung kritisiert zum Beispiel Pimsiri (@pimhasfaith): Menschen sollten von Kultur oder anderen Sichtweisen umgeben sein. Es mache keinen Sinn, wenn jemand reist und einen einzelnen Mann auf der Straße fotografiert statt das in den Blick zu nehmen, was die Person tut. Dieser Kommentar ist mehrdeutig. Soweit ich Pimsiri verstehe, weist sie auf den Gegensatz zwischen der Darstellung des Handelns einer Person, das diese lebendig macht, und einem statischen, quasi leblosen Portrait hin, bei dem der (soziale, politische, kulturelle, religiöse ... ) Kontext, in dem sich die Person bewegt, bedeutungslos oder gar nicht erkennbar ist. Die Frage nach dem Sinn des Reisens will ich hier nicht eigens erörtern. Doch Pimsiris Sätze weisen auf ein zentrales Merkmal vieler Portraits hin, auch und gerade auf Instagram: Auf den Bildern stehen Menschen mehr oder minder sinnlos irgendwo herum (und werden gar mit Lichterketten garniert, wie Jonas Hafner süffisant in einem Text anmerkt). Vielleicht unterscheidet dies ein Foto mit Model, das eine neue Kollektion trägt, aber als Person zurücktreten soll, und ein Portrait, auf dem der Portraitierte mit seiner Geschichte gezeigt wird.
Neben dem Kontext ist die nächste heikle Frage, ob die portraitierte Person für attraktiv oder unattraktiv gehalten wird. Unmissverständlich lehnt Ryan (@ryan_dizzle) die von Chris fotografierte Person ab: „The dude ist ugly.“ Etwas freundlicher drückt es Cameron (@camraad) aus, der auf die Vorlieben der Nutzer anspielt: Portraitiere einfach eine blonde Frau, dann bekommst du auch mehr Likes. Und er schiebt ein „Versuch es doch einfach“ nach. Ob es aufmunternd gemeint ist oder ironisch, vermag ich nicht zu sagen.
Bilder erzählen Geschichten – aber erst durch Worte?
Ein Bild lässt sich formal oder inhaltlich analysieren. Einige Nutzer argumentieren aber noch auf einer anderen Ebene. So kritisiert zum Beispiel Dina (@puderzuckerdose), dass zu dem Bild von Chris eine Geschichte fehle. Abermals steht der Kontext, in dem sich die portraitierte Person bewegt, in Frage. Doch während Pimsiri auf Kontextinformationen anspielte, die im Bild selbst stecken, geht es nun um ergänzende Informationen in Textform.
Viele Kommentatoren vergleichen die Portraits von Chris mit denen von „Humans of New York“ (@HONY). Das Erfolgsgeheimnis dieses Accounts sehen sie darin, dass noch eine Geschichte zum Portrait erzählt wird. Wer diesen Account nicht kennt, sollte ihn sich einmal anschauen. Dort werden ganz verschiedene New Yorker gezeigt und Geschichten von ihnen in der Bildunterschrift erzählt. Der Account ist aus meiner Sicht ein Lob auf die Vielfalt der Großstadt. Die Portraitierten werden ohne großen Aufwand inszeniert, was Licht oder Styling betrifft. In gewisser Weise sind die Bilder die Antithese zu den hochgetunten Bildern von hübschen Models, die sonst gern auf Instagram geliket werden.
Brauchen Portraits also erläuternde Texte? Wozu? Weil die Nutzer sie sonst nicht verstehen? Oder anders gefragt: Wird über das Bild erzählt oder durch das Bild? Was bedeutet das Bonmot, dass „ein Bild mehr sagt als 1.000 Worte“? Oft wird damit die Kraft der Bilder beschworen, die eine Botschaft besser, d.h. eindeutiger und schneller überbringen könnten als missverständliche Worte. Aber der Ausspruch von dem Bild, das mehr sagt als Worte, lässt sich auch anders interpretieren: Bilder sagen nicht nur ganz verschiedenes aus, sondern unter Umständen auch zu viel. Es gibt einen Überschuss an Bedeutung in Bildern, der im schlimmsten Fall dazu führen kann, dass sie dem Betrachter gar nichts mehr sagen. Gewöhnlich gehen die Deutungen eines Fotos weit auseinander – das ist etwas, das ich auch bei meinen Workshops immer wieder beobachte. Bei der Betrachtung eines U-Bahn-Fotos staunt der eine, wie sauber die Bahnstation ist, während der andere die Zigarettenkippe auf dem Bahnsteig sieht.
Bilder können also einen Überschuss an Deutungen und Bedeutungen enthalten. Ein Foto sagt so viel aus, dass keine eindeutige Aussage mehr erkennbar ist – darauf spielen diejenigen Kommentatoren an, die sich mehr Informationen zu Chris’ Portraitbild wünschen. Tatsächlich erfährt man nichts über die Person, wenn man nicht schon etwas über Dubai weiß und die Szenerie einordnen kann.
Mary (@boo_radley_16) meint, Fotos von Menschen könnten verwirren, während Fotos von der Natur ehrlich seien. Sind also nur Portraits durch einen Bedeutungsüberschuss gekennzeichnet und Landschaften eindeutig? Ein Sonnenuntergang ist ein Sonnenuntergang ist ein Sonnenuntergang? So einfach kann es nicht sein, sonst wären nicht auch unter vielen Landschaftsfotos mehr oder weniger lange Texte zu finden.
Das Schöne sehen
Mit der Betrachtung von Fotos auf Instagram scheinen bestimmte Erwartungen und Ansprüche verbunden zu sein: Man möchte abgelenkt werden und dem Alltag entfliehen. So meint Dina (@puderzuckerdose), sie habe nichts gegen Portraits, bevorzuge aber Landschaftsfotos. Denn mit ihnen könne sie eine kleine Reise machen, während sie Menschen jeden Tag sehe.
Viele Kommentare deuten an oder sprechen aus, dass die Rezipienten schon wissen, was sie möchten und was sie begeistert. Instagram gilt als ein positives Medium, das die schönen Seiten des Lebens zeigt oder zeigen soll. Melissa Milo (@tinysatellite; „Mother , wife, humanist, seventh generation Texan“) liket ein Bild nur dann, wenn es sie glücklich macht. Das von Chris’ zur Diskussion gestellte Portraitbild löse bei ihr negative Gefühle aus, weil es sie an einen Sufi bzw. Derwisch erinnere, den sie kenne. Sie folge auch Portraitaccounts, allerdings begeistern sie nur solche von Müttern, Vätern und ihren Kindern. Worin der entscheidende Unterschied besteht, sagt unter anderem Jasmine (@j.parkeri): Auch wenn sie sehr gut gemacht seien, können Portraits uns nicht in demselben Maße berühren wie Landschaften.
Die Furcht vor dem Unbekannten
„Faith Lauren“ (@mangoelephants) erklärt, sie sei stets fasziniert von Portraits und schaue sich diese auch in Museen an. Auch wenn sie sich im Moment des Betrachtens in die Person einfühlen kann, bleiben Fragen offen: Warum wurde diese Person portraitiert oder warum sitzt sie? Oder: Weshalb trägt die Person auf dem Bild diese Kleidung? Einem Sonnenuntergang fehlt dieser Bedeutungsüberschuss, er wirft keine Fragen auf. Für „Faith Lauren“ entstehen beim Betrachten eines Portraits genau solche Fragen, die irritieren können. Ein Bild gibt nicht alles preis, was es zu zeigen vorgibt. Während sie es schätzt, durch Portraits zum Fragen angeregt zu werden, scheinen anderen Nutzer sich vor dem Unbekannten zu fürchten, das mittels der Portraits auf ihren Displays erscheint.
Die anderen in ihrer Privatsphäre zu verletzen, befürchtet beispielsweise Rebecca (@rebecca.j.clarke): Ein Portrait einer unbekannten Person sei zu intim, um es zu speichern und später zu betrachten. Dass ein Portrait auf dem kleinen Bildschirm zu große Nähe bedeutet, habe ich schon gelegentlich behauptet. Diese Nähe gestatten wir nur uns vertrauten Personen (oder unseren Haustieren). Auf den Sperr- oder Homebildschirmen sind solche Portraits zu finden. Früher bewahrte man solche Bilder, gern auch Passfotos von nahestehenden Personen, im Portemonnaie auf.
Aber viele schauen sich nicht nur Portraits von Familienmitgliedern, Freunden oder Bekannten an und liken diese fleißig, sondern vor allem (Selbst-)Portraits von Celebreties, Bloggern oder anderen Instagramberühmtheiten. Denn diese Personen sind ihnen nicht nur bekannt, sondern erscheinen ihnen auch vertraut – wohl auch, weil jedes (siehe Kim Kardashian) oder zumindest jedes zweite Foto (z. B. bei Bloggern) dieselbe Person zeigt.
Misanthropie in Sozialen Netzwerken
Von dem erfolgreichen Influencer Cameron Dallas erzählt man sich, „dass er als Kind sehr schüchtern war und in der Schule kaum Freunde hatte“. Ob er heute mehr Freunde hat, kann ich nicht sagen. Jedoch scheint eine spezifische Menschenscheu für manche Nutzer Sozialer Netzwerke nicht untypisch zu sein. In den Kommentaren machen einige von ihnen keinen Hehl daraus, dass sie lieber keine Menschen auf Instagramfotos sehen möchten, weil sie Menschen nicht mögen – zumindest nicht auf Fotos.
Ein Beispiel hierfür ist der Nutzer mit dem Account @sitamoia71. Er mache keine Bilder von Menschen, weil es ihn störe, verärgere und eine Inkonsistenz im Bild darstelle. Konsequenterweise werden auf dem Account keine Fotos von Menschen gezeigt, sondern von Blumen, Katzen, Gebäuden und, ja, auch Landschaften. Ein radikaler Ansatz, gerade in einem Netzwerk, das beansprucht, Menschen mittels Bildern zusammenzuführen. Klarer wird aber, warum Portraits nicht so erfolgreich sind wie andere Sujets.
Die Besonderheit von Instagram: Zeitknappheit und das Ringen um Aufmerksamkeit
Die Frage nach der Bedeutung, die ein Bild transportiert, berührt aber auch die Frage, wieviel Zeit wir haben, um den Bildinhalt zu erfassen, und wieviel Zeit wir uns dafür nehmen. Wenn für das Erfassen des Bildinhaltes auf Instagram mehr als zwei bis drei Sekunden benötigt werden, dann gilt ein Foto schon als zu komplex. Landschaften sind möglicherweise schneller zu erfassen als Portraits. Zumindest meint Nina (@nispbhh), dass man für ein Portrait mehr Zeit brauche, um es zu erfassen: „A look in the eyes, the emotion, something. So you will need more time.“
Wir brauchen uns nur selbst dabei zu beobachten, wie lange wir ein Foto in einem Museum betrachten und wie lange wir für ein Foto aufwenden, dass wir auf unserem kleinen Smartphone-Bildschirm anschauen. Ich gehe davon aus, dass der Vergleich zugunsten des Museumsfotos ausfällt. Erfolgreiche Fotos auf Instagram sind so komponiert, dass sie schnell erfassbar sind, auch wenn dabei manchmal einige klassische Gestaltungsregeln konsequent ignoriert werden.
Der Algorithmus von Instagram, der entscheidet, in welcher Reihenfolge uns Fotos angezeigt werden, ist nach wie vor ein Ärgernis für viele. Dustin (@dustin.titcomb) vermutet, der Algorithmus sei schuld daran, dass er die Portraitfotos von Chris nicht sehe. Er bekomme die schönen Landschaftsfotos angezeigt, aber um die Portraits zu sehen, müsse er den Account von Chris aufrufen. Seine Schlussfolgerung: Der Algorithmus sei dafür verantwortlich, dass Portraits weniger Likes bekommen als Landschaften. Ähnliches beobachtet auch Adé (@Royalwonder). Der Algorithmus sei dumm, meint sie. Vielleicht programmieren die Entwickler den Algorithmus tatsächlich so, dass Portraits herausgefiltert werden, weil es ihnen so geht wie manchen Nutzern: Sie sehen jeden Tag Menschen, und wenn sie Instagram selbst nutzen, wollen sie Landschaften sehen?
Fazit
Auch wenn ich nicht jede Meinung teile, war das Lesen der Antworten auf Chris’ Frage für mich spannender als die Lektüre mancher Polemiken über Instagram. Hier haben Nutzer ihre Sicht der Dinge dargelegt, und zwar auf ganz unterschiedliche Weise und mit ganz verschiedenen Begründungen. Manche von ihnen möchten nicht (oder nicht allzu sehr) irritiert werden, einige wollen träumen und nicht überfordert werden. Viele Menschen, die Instagram nutzen, erwarten keinen Museums- oder Galleriebesuch, wenn sie am Abend auf der Couch sitzend Instagram aufrufen. Es ist eher wie der Konsum eines Rosamunde-Pilcher-Films: Schöne Landschaften und dazwischen vielleicht eine Story, in diesem Fall von einem „richtigen Influencer“ oder einer Freundin. Die Werbeeinblendungen nimmt man in Kauf, denn ansonsten ist es schließlich kostenlos. Aus den Kommentaren lässt sich herauslesen, dass Portraits für vieldeutiger gehalten werden als Landschaftsfotos. Dieser Bedeutungsüberschuss kann irritieren und erfordert mehr Zeit für die Bildbetrachtung. Im Zweifel regen Portraits nicht zum (Tag-)Träumen an.
Wie sind Eure Erfahrungen? Was haltet Ihr von den Einwänden gegen Portraitbilder? Was macht für Euch ein gutes Portrait aus?
P.S.: Wenn ein Bild, egal ob Landschaftsfoto oder Portrait, viele Likes bekommt, dann kann das auch ganz einfach daran liegen, dass der Beliebtheit des Bildes auf die eine oder andere Weise nachgeholfen wurde. So manche Accountbetreiber sind zugleich die größten Fans ihrer Bilder. Interessanterweise habe ich hierzu in den Kommentaren nichts gefunden.