Ich lebe mitten in der Stadt. Und wenn man mich fragt, wo ich am liebsten fotografiere, antworte ich: In großen Städten mit quirligen Kreuzungen, also an Orten, in denen immer etwas los ist. Aber manchmal ist mir das Treiben zu viel, dann fahre ich raus auf’s Land. Beim Wandern kann ich gut nachdenken und Abstand vom Alltag gewinnen. Mitte September war ich in Estland unterwegs, und dort habe ich einen echten Meister der Stressbekämpfung kennengelernt: Tomas, den Stressbuster. Bisher kannte ich nur die Ghostbusters, die Geistesjäger aus den 1980er Jahren. Tomas verspricht, dass ein Besuch bei ihm Ruhe und Erholung bringt. Mal sehen, ob der Stress verschwindet. Los geht die Tour in Tallinn. Die estnische Hauptstadt ist bekannt für ihre einzigartige Altstadt. Doch weniger bekannt ist, dass man von hier schnell in die Nationalparks oder auf die Ostseeinseln gelangt. Unser erstes Ziel ist Saarema, die größte Insel Estlands. Die Fährüberfahrt bucht man am besten vorab. Ein Monitor am Eingang des Hafenbereichs zeigt, auf welcher Wartespur man sich einreihen soll. Dass wir trotzdem auf der falschen Spur stehen, wundert den Mitarbeiter der Fähre. Aber mehr auch nicht. Er bleibt freundlich, von Stress keine Spur. Auf der Fähre gibt es natürlich Internet. Und fast an jedem noch so entlegenen Ort besteht bester Mobilfunkempfang. Vielleicht lässt sich so am besten Estland beschreiben: Einerseits modern und technikaffin, andererseits freundlich und nicht aus der Ruhe zu bringen.
Saarema - Meer und Wolken
Nach einer halben Stunde sind wir schon am Ziel. Hier sieht es zunächst einmal nicht viel anders aus als auf dem Festland: flaches Land, Wälder und Felder. Wir fahren ganz in den Westen der Insel. Am Straßenrand wartet Tomas, der Stressbuster auf uns, ein bärtiger Hüne. Er nimmt uns in seinem Geländewagen mit, um uns die Insel zu zeigen. Den Geländewagen werden wir brauchen, denn es geht über unbefestigte Straßen. Auf dem Waldweg sind Pfützen, durch die er mit Schwung fährt. Das Wasser spritzt. Am Ende des Weges parken wir und gehen zu Fuß weiter. Es wird ein längerer Fußmarsch durch eine Heide- und Waldlandschaft. Dass es hier auch ungemütlich werden kann, darauf deuten das Gestrüpp hin, dass auf dem kargen Boden wächst.
Im Wald
Am Ende des Weges, einige Meter vom Ufer entfernt, erwartet uns ein Leuchtturm. Wo früher eine Landzunge war, steht heute alles im Wasser. Daran lässt sich gut erkennen, wie stark sich hier die Landschaft in nur wenigen Jahrzehnten verändern kann. Leicht schief im Wasser stehend, behauptet sich der Leuchtturm gegen Wind und Wetter.
Schiefer Leuchtturm
Während der Sowjetzeit war das Gelände für die Bevölkerung gesperrt. Am Ufer waren große Scheinwerfer aufgestellt, um die Ostsee kontrollieren und Fluchtversuche der Bevölkerung verhindern zu können. Übrig geblieben sind noch einige Betonteile, ansonsten ist hier viel Himmel und kaum eine Menschenseele. Dafür sehen wir auf der Rückfahrt einen Elch, der durch den Wald läuft. Vor einigen Jahren hat sich Tomas ein Grundstück am Wald gekauft: ein langgestrecktes Wohnhaus mit Stallungen, einem Schuppen und einer Rauchsauna. Alte Obstbäume stehen im Garten. Auf der Wiese vor dem Haus hat Tomas eine neue Apfelbaumwiese angelegt. Er will aus dem Äpfeln später Apfelsaft herstellen. Tomas hat noch weitere Pläne, zum Beispiel ein Buch schreiben und eine Fernsehserie machen. In einer Metal-Band spielt er übrigens auch.
Auf dem Hof Im Garten ist eine Feuerstelle, auf der Tomas’ Vater Fische brät. Daneben steht eine alte Blechtonne, die als Räucherofen dient. Der gebratene Fisch ist saftig und schmeckt ein wenig rauchig. Dazu gibt es Kartoffeln und gesüßtes Malzbrot mit Butter. Über uns leuchten inzwischen die Sterne. Mehr braucht es nicht, um den Alltag zu vergessen.
Feuerstelle Schließlich bereitet Tomas noch die Rauchsauna vor, die er schon vor vielen Stunden angeheizt hat. Die Rauchgase durchfluten zunächst den Saunaraum. Erst wenn die richtige Temperatur erreicht ist, wird der Rauch aus dem Raum gelassen. In der Saunaluft verbleibt ein Raucharoma und die Wände sind geschwärzt vom Rauch. Diese Art von Sauna ist ein einmaliges Erlebnis. In Estland findet man sie noch recht häufig.
Rauchsauna Im Morgengrauen nimmt uns Tomas mit auf eine Art Safari: Wir suchen die Elche, die wir aus der Ferne hören können. Wir werden aber nur Rehe sehen.
Stressbuster Tomas
Nach einem ausgiebigen Frühstück am Lagerfeuer heißt es Abschied nehmen von der Insel Saarema. Der Stress ist fast verschwunden, die letzten Reste beseitigt Tomas. Für uns geht es wieder zurück auf das Festland Richtung Nordosten. Am nächsten Morgen wollen wir das Moor Viru bog besuchen. Die Wettervorhersagen sind widersprüchlich: Vielleicht wird es regnen, vielleicht die Sonne scheinen. Auch auf die Gefahr hin, nur einen verregneten Sonnenaufgang zu erleben, beschließen wir, früh aufzustehen und zum Moor zu fahren. Die Morgendämmerung gibt uns Hoffnung: kein Regen. Als wir am Moor ankommen, ist am Himmel schon das Morgenrot zu sehen. Nach wenige hundert Metern erreichen wir eine verwunschene Landschaft. Wie im Bilderbuch. Leichter Nebel liegt über den kleinen Seen. Das frühe Aufstehen hat sich gelohnt.
Der Blogbeitrag entstand mit Unterstützung von Visit Estonia. Mehr Information zu Reisemöglichkeiten in Estland findet man unter https://www.visitestonia.com/de/.