Während ich Zug sitze, fällt mein Blick auf den Luzerner See. Es ist Mitte Februar, doch hier sieht es eher nach Frühling aus als nach Winter. Nur die Berggipfel sind weiß überzuckert. Andermatt, das Ziel meiner Reise, war noch vor einer Woche von der Außenwelt abgeschnitten. Es gab zu viel Schnee, Lawinen hatten sich gelöst. Jetzt soll der Weg frei sein.
Bis Göschenen bin ich auf der alten Gotthardbahn unterwegs, auf der heute Regionalzüge Richtung Südschweiz und Norditalien fahren. In Göschenen steige ich noch einmal um, eine freundliche Mitarbeiterin weist mir den Weg. Die letzten Kilometer nach Andermatt, das in einem Hochtal liegt, geht es steil bergauf — vorbei an der Teufelsschlucht und durch Kolonnaden, die die Eisenbahnstrecke teilweise vor Schutt und Schnee schützen. Und hier ist er dann: der Schnee. Meterhoch liegt er aufgetürmt in an den Straßenrändern, hüllt den Ort in weiß.
Der Zug in den Schnee
In Andermatt hält der Glacier-Express, der von Zermatt nach St. Moritz fährt. Auf dem Bahnhof Andermatt herrscht reger Eisenbahnbetrieb. Ich überlege kurz, ob ich weiter fahren sollte nach St. Moritz. Aber die Wolken hängen zu tief an diesem Februartag. Ich würde nichts sehen von der schönen Landschaft.
Stattdessen schließe ich mich Bänz Simmen an, der von seinem Heimatort erzählt. Zwei Geschichten finde ich besonders spannend. Die erste handelt von ihm selbst. Er kommt aus Andermatt und machte eine Ausbildung zum Chemielaboranten. Dann unternahm er eine Weltreise, die ihn dazu brachte, über seine Herkunft anders nachzudenken. Dass man auf Reisen erkennt, wer man selbst ist, was einen ausmacht und was einem wichtig ist, ist nicht das geringste, was man erfahren und lernen kann. Bänz führte es zur Einsicht, in seine Heimat zurückzukehren. Seit seiner Rückkehr arbeitet er als Fremdenführer. Dabei beobachtet er seinen Ort und die Veränderungen, die der Klimawandel hervorruft, auch aus der Sicht eines Wissenschaftlers. Ja, die Gletscher schmelzen in einem vor einigen Jahren noch für unwahrscheinlich gehaltenen Tempo ab. Ja, der Klimawandel verändert den Ort stark. Doch geben die Gletscher auch Steine und Materialien frei, die von der Geschichte des Ortes zeugen. Und in kurzer Zeit erobert die Natur die enteisten Flächen und es siedeln sich erst Flechten und Moose an. Dann kommen Pflanzen und Tiere. Veränderung ist der Welten Lauf, könnte man sagen.
Andermatt, tief verschneit
Aber Bänz erzählt noch eine zweite Geschichte: die Geschichte eines Ortes, der in der Mitte Europas liegt und über die Jahrhunderte in Kontakt mit unterschiedlichsten Regionen stand und Leute aus unterschiedlichsten Regionen beherbergte. Das hat viel — aber nicht nur — mit der Lage am Gotthard-Pass zu tun. Wer zum Gotthard wollte oder vom Gotthard kam, musste durch Andermatt. Als der Eisenbahntunnel gebaut wurde, verlor der Ort zwar diese Bedeutung, dafür wurde er für den Tourismus entdeckt.
Zu Beginn des touristischen Zeitalters kamen vor allem Engländer, um sich im Winter zu erholen und Ski zu fahren. Die Fremden bringen immer etwas mit: Vorlieben für bestimmtes Essen, im besten Falle neue Sichtweisen. Genauso bringen diejenigen, die einmal woanders waren, etwas mit: neue Erfahrungen. Der Ort liegt mitten in Europa. Von hier ist es nicht weit nach Deutschland oder Frankreich. Am kürzesten ist der Weg nach Italien.
Auf der Hauptstraße von Andermatt drängen sich die Häuser eng aneinander. Die Giebel sind zur Straße gerichtet und mit Holz verkleidet.
Andermatt hat noch immer mit dem Strukturwandel zu kämpfen, der nach dem Ende des Kalten Krieges einsetzte. Lange war die Gemeinde ein bedeutender Militärstandort, um den sich bis heute zahlreiche Geschichten ranken. Die Restaurants und Kneipen konzentrierten sich auf die Versorgung des Militärs, was fast zu einer Art Planwirtschaft führte, wie Bänz erzählt. Durch die Präsenz des Militärs entwickelte sich das touristische Angebot kaum. Inzwischen hat sich das Militär aus der Region zurückgezogen. Wie könnte nun die Zukunft von Andermatt aussehen? Dass der Ort auch in Zukunft schneesicher sein wird, ist sicher eine gute Voraussetzung für Tourismus. Auch die gute Erreichbarkeit — durch die Bahnanbindung und die Nähe zum Gotthard-Straßentunnel — sprechen für Andermatt. Aber reicht das? Vor einigen Jahren hieß es, der ägyptische Tourismusunternehmer Samih Sawiris habe den Ort gekauft. Inzwischen wurde das Luxus-Hotel The Chedi errichtet. Ob es eine Erfolgsgeschichte wird, bleibt abzuwarten.
Wer nicht auf Luxus steht, findet in der Gegend einfache Herbergen und jede Menge Natur. So kann man sich zum Beispiel sein Essen in einer Grillhütte selbst zubereiten. Mit der Bergbahn oder dem Zug geht es hoch nach Nätschen, wo Hütten stehen, in denen man selbst grillen kann. Von hier aus überblickt man das Hochtal, in dem Andermatt liegt, und kann den Zug beobachten, wie er sich den Berg hinaufwindet. Der größte Spaß ist allerdings, im Winter mit dem Schlitten den Berg hinunterzufahren. Die Strecke verläuft überwiegend auf der Oberalpstraße, die im Winter für den Autoverkehr gesperrt ist. Die rasante Abfahrt ist ohne Zweifel einer der Höhepunkte der Reise für mich.
Blick ins Tal
Wen es noch weiter in die Natur zieht, der findet auch im Winter die Möglichkeit zu wandern. Ein besonderes Angebot besteht unter dem Namen „Urner Abenteuer-Küche“. Geleitet wird unsere Wanderung von Marco, der die Woche über als Lehrer arbeitet und an den Wochenenden solche Wanderungen organisiert.
Das Tal trifft auf die Felswand.
Zunächst gehen wir ein paar Kilometer ins Brunnital. Wir müssen einige Bäume überwinden, die der Schnee hat umstürzen lassen. Unser Tourleiter und Koch serviert zwischendurch Käse und Getränke, so dass wir nicht allzu erschöpft am Lagerplatz ankommen. Schnell fegt Marco den Schnee von Tisch und Bänken und richtet die Feuerstelle ein. Hier soll also gekocht werden? Was sich zunächst ungewöhnlich anhört — auf einem Lagerfeuer eine Suppe und Älplermagronen, ein typisches Gericht im Uri, zu kochen — entwickelt schnell einen ganz besonderen Reiz. Ja, es wird mit der Zeit kalt, denn nach Sonnenuntergang fallen die Temperaturen. Aber wann ist man schon nach Sonnenuntergang mitten in den Bergen, und das auch noch im Winter? Die Älplermagronen sind in diesem Fall Makkaroni in einer Käsesoße. Die Besonderheit besteht darin, dass auch Kartoffeln hineingeschnitten werden. Dazu gibt es Apfelmus. Ich schätze, nirgendwo auf der Welt schmecken die Älplermagronen besser als unter freien Himmel an diesem kalten Abend.
Zum Ärger meiner Mitreisenden habe ich mich nicht am Schneiden von Zwiebeln, Gemüse und Käse beteiligt. Dafür habe ich in der Zeit Fotos gemacht von der „Küche“ und vom Tal, über dem die Nacht hereinbricht.
Marco unternimmt solche Touren auch mit Schüler*innen. Er erzählt, sie seien zunächst oft skeptisch. Doch schnell wandele sich meist ihre Haltung und sie seien fasziniert von der Natur und von dem, was man hier alles machen kann. Uns geht es genauso, auch wenn unsere Tour eher eine kürzere war. Im Sommer können die Wanderungen länger dauern; auch die Gerichte sind dann aufwendiger. Man brauche nur mehr Zeit. Selbst Pizzen seien schon auf dem Lagerfeuer gebacken worden.
Nach Gebäck, Tee und Kaffee wandern wir zurück Richtung Hotel. Nach all der Natur kommen mir die Fasnachtsgesellschaften irgendwie seltsam vor. Die kleine Wanderung hat wohl meine Perspektive verschoben.
Redaktioneller Hinweis: Die Reise wurde ermöglicht durch freundliche Unterstützung von Schweiz Tourismus. Der Veranstalter hat keinerlei Einfluss auf den Inhalt des Beitrages genommen.