Mit einer Freundin sitze ich in einem Café, als sie ihr Smartphone herausholt und ein Foto von uns macht, das sie ihrem Mann schickt. Eine alltägliche Situation, die wir alle kennen? Oder ein besonderer Moment, der festgehalten werden sollte? Vielleicht beides. Der Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich richtet den Blick auf die kommunikative Funktion, die solche Bilder, Selfies genannt, erfüllen. Sie seien Teil mündlicher Kommunikation und dazu da, sofort mit anderen Personen geteilt zu werden. In unserem Fall könnte die Botschaft lauten: Sieh her, wir sitzen zusammen und haben ein tolles Gespräch. Oder besser noch: Sieh her, wir zeigen, dass wir ein tolles Gespräch haben.
In seinem 80-seitiges Buch geht es Wolfgang Ullrich der Frage nach, warum Selfies so beliebt sind. Warum sind wir bereit, uns selbst zum Bild zu machen? Ullrich argumentiert vor allem gegen die kulturpessimistische Sicht, der Selfie-Boom sei Ausdruck eines hemmungslosen Narzissmus. Woher, so wendet er ein, sollen all die Narzissten so plötzlich gekommen sein? Für den Selfie-Boom seien eher die technischen Möglichkeiten des Smartphones entscheidend. Ullrich gibt auch zu bedenken, dass (echte) Narzissten ihr Selbst als zu kostbar ansehen könnten, „um ein Bild davon mit anderen zu teilen“ (32). Den Akt, sich vor der Kamera in einer Selfiepose zu zeigen (um, sobald das Foto gemacht ist, einen anderen Gesichtsausdruck, eine andere Körperhaltung einzunehmen), begreift Ullrich nicht als Narzissmus, sondern als schauspielerische Leistung: Für ein Selfie spielen wir eine Rolle, und Apps und Programme unterstützen uns bei deren Gestaltung, indem sie „lustige“ Filter bereitstellen. So kann ich mich als Hase präsentieren, als Elefant oder als Leithammel. Freilich hat der Autor auch etwas Spott übrig für die vielen ungelenken Versuche der Selbstdarstellung. Ein Selfie ist in der Regel kein Kunstwerk und es unterliegt starken Normierungen, nicht zuletzt in Form der beliebten Selfie-Filter. Selfie als mündliche Kommunikation Selfies mögen keine Kunstwerke sein, aber Ullrich interpretiert sie deshalb nicht schon als „Symbol des Kulturverfalls“ (32). Vielmehr deutet er Selfies als ein globales, an Smartphones und „Soziale Medien“ gebundenes Phänomen, das die Kommunikation verändert. Im Mittelpunkt der Kommunikation stehen heute Bilder. Mit Bildern und Bildzeichen wird kultur- oder zumindest sprachübergreifend über beliebige Entfernungen hinweg und nahezu in Echtzeit kommuniziert. Kulturelle Unterschiede in der Bildtradition treten dabei in den Hintergrund. Selfies sind insofern ein globales Phänomen: Sie werden überall gemacht und auch verstanden. Den Austausch von Bildern sieht der Autor als eine Art fernmündlicher Kommunikation wie das Telefonieren oder Versenden von Kurznachrichten: alles sei entfernungsunabhängig gleichermaßen schnell. „Bilder können wie gesprochene Worte sogleich zu Schall und Rauch werden, um bestenfalls noch in der Erinnerung derer fortzuleben, die sie einmal gesehen haben.“ (54) Von anderen Formen des mündlichen Austausch unterscheiden sich aber Selfies darin, dass jedes Bild eine Datei und damit speicherfähig ist. Bilder führen eine Doppelexistenz: Sie ähneln der mündlichen Rede und seien flüchtig-momenthaft, weil sie oft nur im Moment angeschaut werden. Zugleich seien sie gespeichert-dauerhaft und in diesem Sinne schriftlich. Das Changieren zwischen mündlich und schriftlich werde „den Charakter von Bildkulturen prägen und zu neuen Formaten und Praktiken führen“ (56). Selfies und andere Bilder Aber sind alle Bilder, die heute geteilt werden, deshalb auch schon Selfies? Was ein Selfie von anderen Bildern unterscheidet, die zur Kommunikation genutzt werden, lässt Ullrich offen. Dabei ist der Begriff des Selfies, abgeleitet vom englischen Self, nicht nur kunstwissenschaftlich, sondern auch soziologisch hochinteressant. Georg Herbert Mead unterscheidet in seiner Identitätstheorie zwischen I, Me und Self. Das Selbst entsteht erst - vereinfacht gesagt - durch die Interaktion mit anderen. In der Pose, die vor der Kamera eingenommen wird, drückt sich das Me aus, aber erst im Prozess der Kommunikation - des Teilens und der Rückmeldung - entwickelt sich das Self. Man könnte sagen, dass ein Selfie zur Identitätsentwicklung beiträgt, da das Individuum Rückmeldungen von anderen Personen bekommt. Erst durch die kommunikativen Akte des Teilens und Antwortens wird ein bloßes Selbst-Bildnis - ein Bild, auf dem ich mich zeige - zu einem Selfie. In der bildlichen Kommunikation nahezu in Echtzeit liegt eben die Brisanz, dass jedes Bild, sei es von mir oder sei es mit mir, meine Identität beeinflusst. Daraus ergibt sich die Frage, was es bedeutet, wenn die Kommunikation formalisiert wird durch Programme wie Instagram oder TikTok. Was bedeutet ein Like auf mein Selfie? Wie beeinflusst es mein Selbst-Bild? In seiner kunstwissenschaftlichen Argumentation betont Ullrich, dass zwischen der Person und dem Bild einer Person eine Differenz besteht. Letztlich haben wir es in der Öffentlichkeit nur mit solchen Bildern einer Person zu tun. Dass Bilder von Personen geteilt werden, versteht Ullrich als Rückgewinnung der Öffentlichkeit. Dass jeder ein Bild (Foto) von sich machen und außerdem noch veröffentlichen (teilen) könne, sei ein Zeichen der Demokratisierung. Dabei nennt der Autor keine konkreten sozialen Netzwerke. Würde er dies tun, müsste er genauer umreißen, was Demokratisierung jeweils heißen soll. Ein Beitrag zur Demokratisierung? Ullrich möchte Selfies in ihrer kommunikativen Funktion verstehen und gegen eine einseitig kulturpessimistische Deutung verteidigen. Dies gelingt ihm überzeugend; an vielen Stellen ist das Buch aufschlussreich. Ulrichs Versuch, Selfies als „die Rückkehr des öffentlichen Lebens“ (so der Untertitel des Bandes) zu feiern und mit Demokratisierung zu identifizieren, halte ich jedoch für misslungen. Soziale Netzwerke, in denen Selfies kommunikativ bedeutsam sind, sind nicht einfach Medien, die etwas übertragen, wie etwa das Telefon Sprache überträgt. Vielmehr sind es algorithmengesteuerte Kanäle, die die Verbreitung solcher Bilder bestimmen. Hinzu kommt noch etwas anderes: Soziale Netzwerke sind (zunehmend börsennotierte) Wirtschaftsunternehmen, die nicht dem Gemeinwesen verpflichtet sind, sondern zuallererst ihren Eigentümern bzw. Aktionären Rechenschaft schulden. Warum ermöglichen sie mir, mithilfe von Selfies und anderen Bildern zu kommunizieren, und das auch noch kostenlos? Warum werden unermüdlich neue Filter zum Verändern meines Bildes von mir selbst bereitgestellt? Was passiert mit den Daten, die ich hinterlasse, wenn ich mein Gesicht unermüdlich zeige? Diese Fragen stellt Ullrich in seinem Buch nicht. Soziale Netzwerke suggerieren gern, in ihnen würden öffentliche Diskurse ausgetragen, und manche Optimisten hoffen noch immer, mit dem Internet insgesamt ginge eine Demokratisierung einher, weil Produktions- und Veröffentlichungsmöglichkeiten für alle bestehen. Doch schon vor über 20 Jahren zeigte die Diskussion um die Vormacht des Internet Explorers, der den Netscape Navigator verdrängt hatte, dass Zugangsfreiheit eine Illusion ist und die Infrastruktur des Internets zur Monopolisierung tendiert. Damals hatte man noch keine Vorstellung von Sozialen Netzwerken und ihrer Tendenz zur Abschließung, für die Snapchat, wo man sich Profile nur anschauen kann, wenn man in das Netzwerk eingeloggt ist, ein eher harmloses Beispiel ist. Auch wenn es Ullrich gelingt, die kreative Dimension bei der Produktion von Selfies herauszuarbeiten, lässt er die strukturellen Limitierungen Sozialer Netzwerke unberücksichtigt. Das ist vor allem deshalb irritierend, weil Soziale Netzwerke die Online-Ressource dafür sind, dass man Selfies teilen kann. Die Annahme, schon das Veröffentlichen von Selfies sei ein Beitrag zur Demokratisierung, verkennt völlig, dass User zum Teilen von Bildern ermuntert werden, um sie als Kunden adressieren zu können. Von Partizipation und Mitbestimmung der User kann in fotosozialen Netzwerken wie Instagram jedoch keine Rede sein. Die Algorithmen sind die Betriebsgeheimnisse der Unternehmen, die sich darum bemühen, das individuelle Nutzungserlebnis zu verbessern. Die Regeln der Sichtbarkeit von Bildern sind nicht verhandelbar. Im besten Fall kann ich mich und mein Selfie bewerben, damit alle anderen es auch sehen können.
Wolfgang Ullrich: Selfies. Die Rückkehr des öffentlichen Lebens. Reihe Digitale Bildkulturen Klaus Wagenbach. Berlin: 2019, 80 Seiten.