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AutorenbildJoerg Nicht

Farewell Photography?

Eine Daido Moriyama-Retrospektive im C/O Berlin


Auf den ersten Bildern der Ausstellung sind Menschen zu erkennen. Es sind grobkörnige Schwarz-Weiß-Bilder, die in den 1960er Jahren aufgenommen wurden. Diese Fotos scheinen weit entfernt zu sein von den glatten Social-Media-Bildwelten unserer Tage oder von der angesagten und KI-getriebenen Midjourney-Ästhetik, die vor allem auf die 1950er und 1960er Jahre referenziert.


Die Ausstellung tut gut daran, auf aktuelle Bildtrends nicht zu verweisen. Wohl nicht nur deshalb, weil den meisten Besuchern der Unterschied zur aktuellen Ästhetik sowieso auffallen würde. Sondern vor allem, weil jeglicher Vergleich vom Werk des japanischen Fotografen Daido Moriyama wegführen und seiner Auseinandersetzung mit dem Medium Fotografie nicht gerecht werden würde. Denn schon nach wenigen Bildserien kann man erkennen, wie intensiv der 1938 in Osaka geborene Künstler mit der adäquaten Form der Fotografie ringt. Seine Bilder zeugen davon, wie er von seinen Protagonisten erzählt und wie er zugleich danach fragt, wie die Geschichten mittels Fotografie überhaupt erzählt werden können.


Eine Schlüsselstellung hat eine Serie vom Ende der 1960er Jahre, in der Moriyama von Kriminalität erzählen wollte, um mit seinen Fotos der Realität näher zu kommen. Der Fotoreporter erreicht den Schauplatz des Verbrechens erst nach der Tat, oft auch erst nach der Polizei. Der Tatort ist dann schon verändert, das Verbrechen schon begangen. Was kann überhaupt dokumentiert werden? Was ist Realität? In einem Tokyoer Bezirk gibt es statistisch viele Verbrechen, vor allem nachts. Wenn Moriyama mit der Polizei auf Streife geht, müsste er also Verbrechen unmittelbar erleben und fotografieren können. Also fährt er mit einer Polizeistreife mit und wird enttäuscht. Was er sieht, sind lediglich ein paar Schlägereien.


Moriyama hat mit Fotografie experimentiert: Er fotografiert Fernsehbildschirme ab oder Fotos aus Magazinen. Er vergrößert Fotos und zerkratzt sie. Es ist eine unablässige Auseinandersetzung mit dem Medium, an dessen vorläufigem Ende das Buch Farewell Photography steht, das er 1972 veröffentlicht. In diesem Band radikalisiert Moriyama seine Zweifel an der fotografischen Realität. Es gehe ihm darum, seine Abneigung gegen in sich ruhende Fotografien zu zeigen. Gemeint sind damit Bilder, denen es an Realität fehlt. Eine solche Fotografie möchte er nicht mehr betreiben. Diese Zweifel führen ihn selbst in eine kreative Krise, aus der er aber, wie der weitere Verlauf der Ausstellung zeigt, herausfand, indem er sich in den 1980er Jahren mit dem Wesen der Fotografie und mit sich selbst auseinandersetzte. Moriyama konzentrierte sich auf das Elementare: Licht, Schatten, das Silberkorn. Und er begab sich auf die Suche nach mentalen Bildern.


Moriyamas Suchbewegungen zeigt die Ausstellung auch anhand von Bildern und Zeitschriften. Dabei haben die gelben Begleittafeln eine besondere Bedeutung, denn erst sie ordnen und erläutern die unterschiedlichen Phasen in Moriyamas Werk. Das Gelb der Tafeln bildet einen Kontrast zu den überwiegend in schwarz-weiß aufgenommenen Fotografien.


Moriyamas Fotografie bezieht ihre Kraft aus dem Zweifel am Medium. Das zeigt die Ausstellung eindrücklich. Und wer sich fragt, welche Zukunft das Medium Fotografie im Zeitalter Künstlicher Intelligenz noch haben kann, bekommt von Moriyama den Hinweis, dass es der falsche Ansatz ist, von der Fotografie zu erwarten, die Realität abzubilden – und zwar nicht zuallererst aus einer theoretischen Perspektive, sondern bereits unter ganz praktischen Gesichtspunkten. Zweifel an der Fotografie haben einen Fotografen wie Moriyama zum Getriebenen werden lassen, der auf den Straßen herumstromert auf der Suche nach einem neuen Bild, was auch immer es zeigen mag.

Eine Zusammenstellung von schwarz-weiß Fotos in der Ausstellung, die ein Mann betrachtet.
Daido Moriyama-Retrospective in Berlin

Daido Moriyama, Retrospective, vom 13. Mai bis 7. September im C/O Berlin, Katalog Daido Moriyama – A Retrospective, Prestel 2023, 55 €

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