Die Farbe der Stadt: Sehen Lernen mit Fotografie
- Joerg Nicht
- 29. März
- 3 Min. Lesezeit
Mit ein paar Minuten Verspätung erreiche ich den Eingang der U-Bahnstation, in den die tiefstehende Sonne noch wenige Minuten zuvor geschienen hat. Mein Plan, das Spiel von Licht und Schatten an diesem Ort zu fotografieren, ist gescheitert. Was mache ich nun? Statt nach Licht und Schatten suche ich eine Farbe, die ich im Stadtraum fotografiere. Welche Farbe könnte das sein? Sie sollte nicht zu oft vorkommen, es soll mich schließlich herausfordern, sie zu finden. Ich entscheide mich für Türkis. Manchmal ist es nicht ganz einfach zu entscheiden, ob es nicht doch blau ist oder ob es ins Grün tendiert. Türkis ist eine sogenannte Mischfarbe. Der Name des Farbtons ist vom Schmuckkristall Türkis abgeleitet, das im deutschen Sprachraum durch türkische Vermittlung bekannt geworden ist. Das soll meine Farbe sein, nach der ich auf meiner heutigen Fototour suche. Was ich auf meinem kleinen Spaziergang entdecke, möchte ich hier mit Euch teilen.
In Städten wie Berlin ist Türkis auf den Straßen recht präsent, weil es der Farbton einer Marke ist, die Leihfahrräder und Leihroller anbietet. Diese stehen parkend auf Gehwegen herum. Oft werden sie achtlos abgestellt und sind Stolperfalle und Ärgernis für Fußgänger. Aber dieses Türkis ist eben auffällig. Neben dem Ärger über die Art der Benutzung, die auch dem Geschäftsmodell der Unternehmen geschuldet ist – bezahlt wird die Nutzungszeit, zu der auch die Suche nach einem guten Abstellplatz gehört –, bringen diese Geräte auch Vorteile, wie die lautlose, schnelle Fortbewegung in der Stadt.
Da das Türkis dieser Leihgeräte so präsent ist, beginne ich meine Fototour mit einem Roller, der nicht auf dem Gehweg steht, sondern vorbildlich auf einer gekennzeichneten Fläche. Im Schein der tiefstehenden Sonne werden Farbe und Form des Rollers zu einer Art Skulptur.

Nur um 180 Grad drehe ich mich, um die türkisen Mosaiken am früheren WMF-Gebäude zu fotografieren. In der orientalischen und islamischen Kunst ist Türkis seit Jahrhunderten beliebt. Der Farbton ist dort vor allem auf Kacheln und glasierter Keramik zu finden. Auf diese Tradition spielen die Mosaiken wahrscheinlich an. In ihrem Zentrum steht das Logo der Württembergischen Metallfabrik, kurz WMF, rechts davon ein stilisierter Straus, das Maskottchen der Firma, deren Hauptgebäude der Jugendstilbau bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs war. Das Gebäude beherbergte in den 1990er Jahren den legendären WMF-Club. Ich weiß nicht, ob die Mosaike damals überhaupt zu sehen waren oder ob die Sanierung sie wieder zum Vorschein brachte.

Türkise Autos sieht man eher selten. Ich habe keine statistischen Angaben gefunden, wie häufig Autos in Türkis lackiert werden. Gleich um die Ecke, in der Leipziger Straße, fuhr dieses Auto vorbei.

Als Jugendlicher hatte ich in den späten 1980er Jahren halbhohe Schuhe in Türkis. Das Leder war angenehm und überhaupt habe ich die Schuhe sehr gern getragen. Türkise Hosen, wie dieser Mann sie trägt, dazu noch glänzend, hatte ich aber nie. Meine damalige Farbwahl finde ich heute etwas mutig.

Türkis wird gern mit Orange kombiniert. Zu sehen ist das an der tschechischen Botschaft in Berlin, die im Brutalismus-Stil gebaut wurde und interessante Farbeakzente (und auch Materialkombinationen) aufweist. Im Eingangsbereich ist diese Wand zu finden, die von einer orangen Deckenfläche abgeschlossen wird. Zunächst völlig unscheinbar, schwächt diese Farbkombination die Wucht des Eingangsbereich ab.

Ein Streifen Türkis auf einer Bauschuttcontainer – nicht das spannende Motiv, das es auf das Cover von National Geographic schaffen würde. Irgendjemand muss sich Gedanken über die Gestaltung des Containers gemacht und einen guten Grund gefunden haben, den Container mit eben diesem Farbband zu versehen. Nur welche? Gern nehme ich Vorschläge dazu entgegen.

Der Stromkasten, der türkis bemalt ist, sollte offensichtlich gestaltet werden: Eine Unterwassersituation mit kleinen blauen Fischen ist zu erkennen. Die Sicht auf den Kasten wird verstellt durch einen abgestellten Motorroller. Das bringt mich auf die Idee, einmal eine Serie über Strom- und Telefonkästen zu machen, die in Berlin an jeder Ecke auf dem Bürgersteig stehen und immer größer werden, und Platz und Sicht nehmen.

Und mit einem Toyota Starlet P9 am Gendarmenmarkt endet meine kleine Türkis-Tour.
Ich finde, die Konzentration auf eine Farbe und die Suche nach ihr in vertrauter Umgebung ist eine gute Möglichkeit, das eigene Sehen zu schulen und den Blick zu erweitern – gerade wenn ich meine, ich habe den Ort schon zu oft gesehen, um ihm noch neue Facetten abzugewinnen.

Wie schult Ihr Euer Sehen? Schreibt mir gern Eure Tipps in die Kommentare.
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